• Letzte Änderung:    02 Oktober 2022

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Dolly Hüther

Was Sie immer schon über Dolly Hüther wissen wollten.

 

 

 

 

 

Vorweihnachtliche Geschichte

              Liebe BewohnerInnen dieses SeniorInnenhauses, zu der heutigen Vorweihnachtsfeier habe ich für Sie eine Geschichte geschrieben. Ich dachte mir, da Sie ja nicht mehr so oft aus diesen Mauern herauskommen, werde ich halt für Sie in die Stadt gehen, um die vorweihnachtliche Stimmung einzufangen. Ich bin über die Luisenbrücke geschlendert. An der Ecke Eisenbahnstraße Saaruferstraße, steht eine Werbetafel. Auf der einen Seite lese ich:

  1.  Na, gibt`s denn so was? Ob großes oder kleines Tier.

Jede Menge zum Schnuppern und Schnäppchen machen.

 

  • Vom Teddy bis zum dicken Brilli...
  • Saarbrücken hat viel zu bieten:
  • 4 lange Samstage und über 10.000 Parkplätze warten auf Sie!  
  • Weihnachtsgewinn-Spiel im KAUFHOF.“

Ein Koalabär lächelt mich an. Er hat ein Tannenbäumchen in der Pfote. Auf der anderen Seite ein Text, der Sie bestimmt genau so begeistern wird:

„Nikolaus ist ein guter Mann,

Sonderauslosung im Deutschen Lotto und Toto - Block.

Am 30.11. und 03.12.94

10    BMW 850 Ci

100 BMW 320 i im Spiel 774 Mio. DM

auf alle Spielscheine im SAARTOTO.“

 Meine Frage an SIE: Ist das die Stimmung, die ich für Sie finden soll?

In der Eisenbahnstraße wird gebaut. Das Haus, in dem die Buchhandlung Raueiser war, ist eine tiefe Baugrube mit Bagger und Absperrung. Über der Straße hängen die obligatorischen Lichterketten zu Weihnachten. Viele Menschen regen sich auf es würde dadurch zu viel Strom verbraucht. Die Stadt wird beschimpft, dabei finanziert sich der Einzelhandel diese Beleuchtung selbst – als Werbung. Aber da, gegenüber der Baustelle, ein Funkeln und Glitzern. Ein ganzes Haus sehr fromm geziert. Mir fällt das Gedicht ein:

Markt und Straßen steh`n verlassen, still erleuchtet jedes Haus...

Stimmt auch nicht, vielleicht noch auf dem Land. Hier in der Eisenbahnstraße ist von vorweihnachtlicher Stille nichts zu spüren. Ich gehe ja auch nicht:

sinnend durch die Gassen, allses sieht so festlich aus…

denn in einer größeren Stadt geht der Alltag weiter. Dann die Bahnhofstraße, rechts hinauf und links wieder hinunter. Immer schauend, riechend, wahrnehmend. Oben an der Rolltreppe zu Karstadt, fällt mir auf: Es wird vielleicht in den nächsten Jahren in dieser Gegend wieder schön sein. Diese Straße ist eine einzige Baustelle. Hier entsteht eine verkehrsberuhigte Zone, weitestgehend autofrei:

An den Fenstern haben Frauen buntes Spielzeug fromm geschmückt...

Also muß ich die Schaufenster betrachten. Oh ja, da ist sie, die geschmückte Zierde, die die Kinder so wunderstill beglücken soll. Aber viel Plastik, viel Kitsch. Ist es das? Lohnt sich das? Soll ich ihnen das überbringen? Beim Weitergehen rieche ich plötzlich Zimt, Anis, Marzipan. Ja, dieser Geruch erinnert mich an Weihnachten, macht Appetit auf Plätzchen und Lebkuchen. Ich bleibe ein wenig stehen und denke, es wird der Geruch sein, der diese Feier zu einer Vorweihnachtsfeier macht. Aber da war doch noch etwas?

Sterne hoch die Kreise schlingen in des Schnees Einsamkeit...

Eigentlich gehört zu dieser Zeit Schnee. Erderwärmung, Umweltverschmutzung, Ozonloch, alles was wir Menschen unserer Mutter Erde zugefügt haben, schlägt auf uns zurück. Also kein Schnee. Neben mir wird ein Kind von seiner Mutter, die viel zu große Schritte macht, hinter sich hergezogen. Es quengelt, verständlicherweise. Da nehme ich mir vor, für Sie alle noch einmal zu wandern. Am Abend, wenn die Lichter brennen, ganz bestimmt auch über den Weihnachtsmarkt.

              Es ist der 01.12.94, 17:00  Uhr, und ich komme gerade vom Besuch meiner Mutter hier aus dem Johannishaus. Meine Heimfahrt verläuft über die Eisenbahnstraße zur Viktoriastraße, denn ich suche einen Parkplatz. So, das ist ja ein schöner Anfang, denn diese Suche dauert eine Stunde. Da sehe ich schon ein wenig festliche Stimmung in Form von Lichterketten. Die jetzt brennenden Glühbirnen hängen wie Tropfen an ihren Befestigungen und verzaubern die sonst so nüchterne Straße.

Ich finde vor der Feuerwache endlich einen Parkplatz. Es ist bereits 18:00 Uhr und der Weihnachtsmarkt lockt. Von weitem höre ich schon:

Morgen Kinder wird’ s was geben...

Das klingt doch vorweihnachtlich? Ich sehe die vielen Holzhäuschen und nehme den Geruch von Glühwein auf. Vor diesen Ständen sind die meisten Menschen anzutreffen. Aber, das ist ja klar, er gehört dazu. Aus verschiedenen Lautsprechern nur Weihnachtslieder. Die vertrauten alten die wir alle kennen, jedoch an jeder Bude ein anderes, dadurch ein Weihnachtsliederdurcheinander.

Ich gehe von Häuschen zu Häuschen und stelle fest: Viel Nepp. Alle wollen nur verkaufen, fast wie auf einem Jahrmarkt. An einem Stand riecht es besonders gut. Ich trete näher. Da gibt es die von mir so geliebten Waffeln, mit heißen Kirschen. Jetzt hat es auch mich gepackt. Ich kann nicht widerstehen. Im Weiterlaufen esse ich diese Köstlichkeit und gebe mich ganz den vorweihnachtlichen Gedanken hin. Ich bin enttäuscht, denn vieles ärgert mich. Die große Frage: Was hat das alles noch mit Weihnachten zu tun? Da gibt es Steine, Stricksachen, Glasgeblasenes, Zwiebelkuchen, Obst, Lederartikel, Amulette...

Und auf einmal ist er wieder da - der Geruch von Zimt, Anis, Schokolade und Marzipan. Ich verweile ein wenig und inhaliere diese süßen Düfte. Es gibt viele Glühweinstände, auch die tragen zum Wohlgeruch bei. Aber kaufen will ich nichts mehr. Ich sehe Menschen, die sich kauend über die Straße bewegen.

Ich denke an SIE. Ob SIE wirklich etwas versäumen, wenn SIE diesen Markt nicht besuchen können? Mit einem Mal ist der letzte Satz meines Gedichtes vom Anfang dieser Geschichte wieder parat. Oh, du gnadenreiche Zeit.

Ich frage Sie alle: Ist das die gnadenreiche Zeit?

Nun ist auch der allerletzte Rest von Illusion verschwunden. Also muß da doch noch etwas anderes sein. Mir wird klar, und das macht mich froh, die Stimmung die ich brauche, ist in mir. Ich muß sie erst gar nicht suchen, sondern nur meine Lust und Freude mitbringen, um mit Ihnen einen fröhlichen, vorweihnachtlichen Nachmittag zu gestalten. Dabei habe ich die Hoffnung, daß es Ihnen ganz genau so geht wie mir.

Oh, Du gnadenreiche Zeit…

..... von Dolly Hüther im Dezember 1994. Es war ein Auftrag der Leitung des SeniorInnenheimes „Johannishaus“ auf dem Winterberg in Saarbrücken und eine Bitte der Pflegerinnen und Pfleger, für die Vorweihnachtsfeier der fünften Etage, auf der ihre Mutter lag, etwas zu schreiben. Dolly Hüther wurde aber dann gebeten, ihre Geschichte allen Seniorinnen und Senioren in der Vorweihnachtfeier zu lesen.