• Letzte Änderung:    02 Oktober 2022

Wer ist online?

Seit Mai 2012:428778
Angemeldet 0
Gäste 13

Dolly Hüther

Was Sie immer schon über Dolly Hüther wissen wollten.

 

 

 

 

 

Das grüne Gummibärchen

Ja, ob ihr es glaubt oder nicht, ich muss einmal die Welt aus meiner Perspektive schildern. Da liege ich in einer durchsichtigen, goldumrandeten Tüte in einem Regal im Supermarkt. Gar nicht mal so schlecht, denke ich. Das signalisiert doch, meine Mitschwestern, Mitbrüder und ich sind etwas ganz Besonderes. Ich muss zugeben, es wäre mir zwar lieber, mich mehr ausbreiten zu können. Aber nein! Das ist nicht drin; denn nur zusammen geben wir erst diese bunte, weiche, klebrige Gummi-Bärchen-Masse ab. Damit sind und waren wir halt einmalig. Und weltweit bekannt. Drum haben uns auch international renommierte Künstler in Hochglanz für die Popwelt in Szene gesetzt.

 

Da ich in dieser Tüte das einzige grüne Gummibärchen bin, maße ich mir an, der Boss zu sein. Von den Exemplaren anderer Farben gibt es jeweils eine Menge. Das erste Bärchen, das mich stört und mir echt auf die Nerven geht, ist kreischrot gekleidet. Es räkelt sich auf mir herum. So aggressiv wie die Farbe ist auch diese Nachbarin. Sie drückt sich an mich und was passiert? Alle Roten hinterher. Was demonstrieren sie nur? Das sieht ja aus, als hätten sie Wut. Auf wen? Das muss jetzt erst mal geklärt werden. Ihr anderen müsst mir helfen. Wie wär es, wenn ihr zahlreichen Gelben euch  einmischen würdet? Meine Güte, jetzt kleben auch noch ganze Scharen von diesen farblosen Schwestern am Tütenrand. Und diese orangefarbenen Bären? Sie sind so gut verteilt, dass kaum eines erkennbar oder sichtbar wird.

Oh, wie schön, denke ich, da kommt doch eine Kundin, ich schätze mal so um die zwanzig, und flugs landen wir in ihrem Einkaufskorb. Hier herrscht der totale Aufruhr. Was passiert denn jetzt mit uns? Der Korb füllt sich mehr und mehr. Die Frau scheint es eilig zu haben, denn auf mir landen schwuppdiwupp Kartoffeln, Möhren, Äpfel usw. Ich ersticke fast in Obst und Gemüse. Schon bugsiert sie den Korb ins Auto. Zu Hause angekommen fliege ich mit Schwung auf den Küchentisch. Wobei ich dieses Mal froh bin, die Landung gut gepolstert zu überstehen. Doch eigentlich, stelle ich mir vor, ist mein Leben eh gleich zu Ende. Wir wurden schließlich produziert, um in einem feuchtrosa Munde zerkaut zu werden; es kann sich nur noch um Minuten handeln, dann bin ich dran. Mein Schicksal kenne ich durch meinen Gummibären–Großvater. Wie durch ein Wunder überlebte er diese Prozedur, weil er unten in einer Ecke der Tüte hängen geblieben war. Er trocknet seit langer Zeit vor sich hin.

Noch liegen wir friedlich und dösen vor uns hin. Auch um uns herum ist es ruhig. Es wird langsam dunkel, und das Haus schläft. Gerettet! ,  so denke ich. Langsam dahin dämmernd träume ich: Wir sind zu irgendeinem ganz besonderen Anlass gekauft worden. Vielleicht gar nicht zum genüsslichen Verzehr?

Was am neuen Morgen geschieht, ist seltsam genug. Diese Frau reißt die Tüte auf, schüttet uns auf den Tisch und fängt an, uns nach Farben zu sortieren. Sie murmelt, wie ich höre, herausfinden zu wollen, wie viele von uns in gleicher Farbe vorhanden sind. Aha, ein Experiment! Wir ziehen daraus den Schluss, zweckentfremdet zu werden. Aber dann teilen sich schon die Ansichten. Manche sind der Meinung, dass der Unterschied keiner ist, anderen ist’s egal, die dritte Gruppe findet ein Experiment immer noch besser, als an einem Tag verspeist zu werden. Ein Schicksal, das gestern noch drohte, selbst wenn wir zusammen immerhin ein Pfund wiegen.

Schon wieder die Roten. Sie liegen auf dem Rücken, aufgereiht in Reih und Glied. Mir ist dieses ganze Prozedere sehr suspekt. Oberhalb von mir also die Roten, und was soll ich dazu sagen, auch in der untersten Reihe sehe ich rot, rot und nochmals rot. Das ist verdächtig. Wie diese Bande sich in Positur drängt. Ich liege als grünes Bärchen immerhin in der zweiten Reihe. Dann schleichen sich die Glasigen dazwischen und daneben die Orangefarbenen. Wie die sich schon wieder dazwischen drängen! Und wie die sich verhalten! Nichtssagend! Ohne Bedeutung! Abwesend!

Aha, sie werden zu einem Muster ausgelegt. Das durchschaue ich noch nicht ganz. Was entsteht da? Ein Häuschen – gedeckt mit einem orangefarbigen Dach. Da hätte ich beispielsweise eher die Roten verwandt. Bemerkt diese Frau eigentlich, dass ich der Boss bin. Will sie mich an wichtigerer Stelle drapieren? In Ordnung! Aber da entsteht ein neues Gebilde. Das sieht ja wie ein Wort aus. Geformt aus den glasigen Bärchen. Ich muss mich ein wenig vorbeugen, um es zu entziffern. Was? Schrums-Methode

Kapiere das, wer will. Aus den restlichen Bären versucht unsere Eigentümerin etwas weniger Abstraktes zu legen – eine Blume. Mit einer letzten durchsichtigen Bärin in der Mitte. Und was sehe ich und staune: rundherum prangen alle zur Verfügung stehenden Roten. Der Stiel besteht aus den Orangefarbenen. Hier liege ich nun, allein und verlassen. Meine rundlichen Formen lösen sich fast auf vor lauter Fragen und Gedanken, die mich martern.

Was hat diese Frau mit mir vor?

War ich denn zu gar nichts nutze? 

Wieso merkt sie nicht, dass ich wichtig bin? Der Boss aller. Da – der Mund geht auf –, mit einem Schwung lande ich darin. Bevor noch der  erste Zahn mich trifft, spult sich mein ganzes süßes Bärenleben in mir ab. 

Jetzt habe ich es kapiert: Adieu, lieber Großvater, mich erwischt das Schicksal.              

21.07.2013 Dolly Hüther