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Dolly Hüther

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Vom Brand der Synagoge in Meisenheim/Glan

Aus der Erinnerung zusammengetragen von den Schwestern Sieglinde und Isolde, notiert am 11.08.2011 von Isolde (Dolly) Hüther, geb. Conrad

Die Brandnacht im November 1938 in Meisenheim/Glan ist in unserer Erinnerung nicht erloschen. Obgleich oder gerade weil wir sie damals als Kinder erlebt haben? Obgleich oder weil wir eigentlich in Saarbrücken wohnten? Jedenfalls war unsere Großmutter Charlotte Luise Boos, geb. Keller, in Meisenheim am 7. August 1869 zur Welt gekommen, im Herbst 1938 an einer schweren Lungenentzündung erkrankt. Zur Pflege war unsere Mutter mit uns drei Geschwistern im Gepäck aus Saarbrücken angereist gekommen. Unterstützt wurde sie von Großvater Karl Boos, geb. am 29. Okt. 1870 in Gangloff/Pfalz, der in Meisenheim eine Sattlerei und Polstererei betrieben hatte. Unsere Mutter, Berta Charlotte Conrad, geb. Boos am 6. März 1906 in Meisenheim/Glan, war trotz ihrer Sorge um Großmutter auch um uns bemüht gewesen: Meine Schwester Sieglinde, geb. am 22.12.1930 in Saarbrücken-Ottenhausen, war schon schulpflichtig und konnte in Meisenheim die Volksschule besuchen. Wir beiden Kleineren, Isolde Conrad, geb. am 24. Mai 1932 in Saarbrücken-Ottenhausen, und mein Bruder Karl-Hermann, geb. am 22. Nov. 1935, waren dank unserer Mutter bei den katholischen Schwestern im Kindergarten rechtsseitig der Glanbrücke gut versorgt.

Meisenheim war damals, wie ich freilich erst im Nachhinein weiß, eine Hochburg der Nationalsozialisten. Wenn ich einige mir Bekannte darüber sprechen höre, sagen sie: „Wer war das damals nicht!“ Auch mein Großvater zählte zu den deutsch-national Denkenden. Ich selbst wuchs in einem Familienhaushalt auf, in dem Hitler niemals als Verbrecher bezeichnet worden ist. Meine Schwester und ich waren freiwillig in der Jugendorganisation der Partei engagiert; mich zog vor allem der sportliche Wettkampf in den Mädchengruppen, an.

Im Haus der Großeltern durfte meine Schwester ihre Hausaufgaben immer an dem sehr alten und wunderschönen Schreibpult des Großvaters erledigen. Dieses Privileg wirkte doppelt förderlich, denn auch die Neugier, sofern sie bei einem Mädchen von sieben Jahren noch nicht gebrochen ist, wurde beflügelt. Besonders wenn es hieß: An diesen Schublädchen hast du nichts verloren! Das reizte doch geradezu heraus. Sieglinde öffnete also eine Lade – und fand zwei NSDAP-Mitgliedsbücher. Wäre für sie vielleicht nicht so interessant gewesen, wenn nicht einer der beiden Ausweise mit dem Namen und dem Bild ihres Vaters Hermann Conrad, geb. am 21.11.1894, versehen gewesen wäre. Ich erfuhr das erst viel später Sieglinde hatte damals „tapfer“ geschwiegen.

Im Hause Boos war viel getuschelt worden; meine etwas reifere, ältere Schwester hat dementsprechend mehr davon mitbekommen.

Großvater hatte unseren Papa für die Partei geworben und für ihn, Vater dreier Kinder mit einem noch nicht ganz abgezahlten Haus, die Beiträge entrichtet. Daher lag auch dieses Parteibuch bei Großvater im Schublädchen. Seit ihrem Eintritt 1933, wie Sieglinde und ich heute wissen.

Und nun zur Pogromnacht. Ich erinnere mich noch, dass viel Lärm zu hören war, so dass wir nicht schlafen konnten. Morgens, am Frühstückstisch, fragte eine von uns nach, was da los gewesen sei. Die Antwort lautete:

„Ei, heut Nacht hat die ‚Juddekersch’ gebrannt.“ So wurde die Synagoge damals genannt. Am Nachmittag, nachdem Sieglinde die Hausaufgaben gemacht hatte und wir aus dem Kindergarten zurückgekehrt waren, löcherte meine Schwester den Großvater, mit ihr unbedingt dort hinzugehen, wo es gebrannt habe. Großvater war nicht begeistert von der Bitte, doch gab er nach, unter der Bedingung, dass sein kleiner Enkel daheim blieb. Neugierig wie ich war, wollte ich natürlich mitgehen.

Als wir vor der Brandstelle standen, muss mein Blick schon bald hilfesuchend zu Großvater gewandert sein. Ich erinnere mich lebhaft an seine Haltung und an seinen Gesichtsausdruck. In Worten: Großvater wirkte nicht betroffen. Und als wir wissen wollten, ob bei dem Brand noch Leute in dem Haus gewesen seien, gab er uns die lakonische Antwort: „Die Juddekersch hat heut Nacht gebrannt.“ Es roch für unsere Nasen stark nach dem Brandgeschehen, aus verschiedenen Teilen des Hauses stieg sogar noch Rauch auf.

Wie in vielen Familien wurde auch bei uns nicht weiter darüber gesprochen. Nicht einmal nach dem Krieg. Fakt ist, dass sowohl die Brandstifter als auch betroffene Juden geschwiegen haben. Das wiegt ebenso schwer wie die mystifizierenden ‚Argumente’ der Verteidigung der sogenannten Hitler-Zeit anzuhören sind. Der damals in Deutschland verbreitete Faschismus wird noch oft auf eine Person projiziert, dazu unter Umgehung des Namens Hitler:

ER habe den Menschen Arbeit verschafft.

ER habe viele Autobahnen gebaut.

ER habe viel für die Bevölkerung getan.

ER habe viele Institutionen geschaffen, damit die Jugendlichen nicht auf der Straße endeten.

ER habe dafür gesorgt, dass die deutsche Frau wieder mehr Kinder zur Welt brächte, den Müttern Wert verliehen werde, und so fort.

Dass ER Konzentrationslager gebaut hat, ER dafür verantwortlich war, dass so viele jüdische Menschen und Nichtjuden umgebracht worden sind, darüber wurde in meinem Umfeld geschwiegen. Mein Vater behauptete einmal, nichts davon gewusst zu haben. Schon meine Frage gefiel ihm nicht: „Lieber Papa, ihr hattet doch alle Hitlers Buch Mein Kampf zur Hand. Ich habe es gelesen, da steht doch Wort für Wort, welche Ziele er verfolgte. Oder gehörte die Schrift zu den vielen Büchern, die ungelesen Wände zieren? Hast du es gelesen?“ Ich blieb ohne eine Antwort zurück. Wenn ich heute an Vaters Grab stehe, fallen mir weitere Fragen ein, die ich ihm gestellt hatte. Und aus Gründen der Scham, der Angst, der Ignoranz – ich weiß es nicht – unbeantwortet geblieben sind.

Ich bin nicht einmal sicher, ob das, was ich hier schreibe, zur Rekonstruktion des Novemberpogroms von Bedeutung ist. Doch Herr Günther Lehnhoff, Vorsitzender des Träger- und Fördervereins der Synagoge Meisenheim/Glan e. V., versicherte, dass diese Aufzeichnungen durchaus wichtig seien. Er bat darum, sie aus der Sicht meiner Schwester zu ergänzen. Sieglinde hat noch Namen von jüdischen Menschen im Gedächtnis, die in den Meisenheimer Annalen nicht auftauchen. Vergessen? Willentlich verschwiegen? Da verstehe ich Herrn Lehnhoffs Bemühen, jede Information aufzunehmen und sie einem kollektiven Gedächtnis zuzuführen. Denn wichtig ist, diese Gräueltaten nicht zu vergessen und auch ihrer Verleugnung entgegenzuwirken. In diesem Sinne möchte ich bald das vorgeschlagene Projekt realisieren, einige noch in Meisenheim lebende Menschen zu jener Zeit zu befragen und ihre Erinnerungen zu überliefern.

Nicht zuletzt durch die Einladung der Meisenheimer Synagoge, aus meiner letzten Buchveröffentlichung zu lesen, erneuert sich meine starke Anbindung an die Heimatstadt unserer Mutter. Mögen sie, die Heimat, die Mutter, unvergessen bleiben. Befreit von ihrer ideologischen und nationalistischen Funktionalisierung, kommen auch ihre friedliebenden und versöhnenden Aspekte zutage.


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