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Dolly Hüther

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Der fadenreiche Kokon - Textprobe "Die Straße der Witwen"

Textprobe: Die Straße der Witwen

 Sie wünschte sich damals, Holger bei sich empfangen zu können. Das ging ja nicht.

Sie war schließlich verheiratet und wollte auf keinen Fall ins Gerede kommen. Witwen, das wusste sie, leisteten sich manches, sie pfiffen auf soziales Ansehen und Pflichten, und das wurde toleriert. Sie selbst war keine Witwe. Und wenn sie sich aus naheliegenden Gründen so benähme, würde das die Menschen ihrer Wohnstraße garantiert empören.

Apropos Witwen, dachte sie. Heute dürften sie zahlreicher sein als früher. Es gibt Straßen, wo überwiegend Witwen wohnen. Ob sie selbst einmal zu ihnen gehören würde, irgendwann? Sie hatte doch schon mehrfach darüber geschrieben. Marianne zog eine der Geschichten hervor. Die Auswahl fiel ihr nicht schwer.

Die Straße der Witwen



Sie entstand während der Fünfzigerjahre in einem neuen Wohngebiet. Damals bot die Kommune bauwilligen Paaren Gelegenheit, sich ein Eigenheim zu schaffen. Die meisten Leute konnten sich das Haus nur durch viel eingesetzte Eigenarbeit leisten. So wie die Häuser nun in die Jahre gekommen sind, sind es auch ihre Bewohner.

In diesem Viertel bestätigt sich, was heute die demographische Forschung über die Lebenserwartung von Frauen und Männern zu berichten weiß. Die Statistik besagt, dass Männer durchschnittlich bis zu acht Jahren früher als Frauen sterben. In der genannten Straße leben im Moment überdurchschnittlich viele Witwen. Von nur achtundvierzig Häusern befinden sich inzwischen zwölf in den Händen von Hausbesitzerinnen, die ohne männliche Partner leben. Fallen die eigentlich auf? Nur dadurch, dass ein kleiner, untersetzter Mann, Mitte sechzig, sie für die Beute seines Jagdgebiet hält. Er schleicht mehr oder weniger auffällig an den Häusern vorbei, auf dem Weg zur nah gelegenen Bushaltestelle oder zum Supermarkt, auch zum Arzt, worüber er jedes Mal bereitwillig Auskunft erteilt. Täglich wird er gesehen. Ab und zu bleibt er stehen. Mal vor diesem, mal vor jenem Haus einer Witwe. Er wird als mitteilungsbedürftig wahrgenommen. Der Ton seiner Erzählungen klingt jammernd, lamentierend. So erfahren die Leute in der Nachbarschaft tröpfchenweise seine Wünsche, sein Befinden, und, im Laufe der Jahre, wie es kommen muss, seinen ganzen Lebensbericht.

Seine Frau ist ihm abgehauen, mit einem anderen – wie er sich ausdrückt. Er hat sich scheiden lassen. Bei der nächsten Gelegenheit lässt er sich lang und breit über seine Kinder aus. Diese seien auch nur auf sein Haus, sein Geld oder sein Auto scharf. Immer dann, wenn ihn der Weltschmerz überfällt, muss er einer Person in der Straße sein Leid klagen. Wie krank er sich im Moment fühle. Und dann, er wünsche sich nichts sehnlicher als eine Frau im Haus.

Wie, Sie meinen, Männer tratschen nicht?

Sie reden nicht über sich selbst?

Bei diesem ist das völlig anders. Seine Gedanken kreisen um das Witwen-Eldorado. Eigentlich müsste er schon lange eine an Land gezogen haben, was doch sein größter Wunsch ist. Aber weit gefehlt!

Betrachten wir uns einmal seinen Jagdgrund, die Witwen, näher.

Da lebt eine Frau, die hat ihren schwerkranken Partner über sehr lange Zeit, bis zum bitteren Ende, den Tod, begleitet. Er hatte Krebs. Sie wird das alles nie vergessen können. Sie will keinen Mann mehr an ihrer Seite. Sie kann sich an keinen mehr gewöhnen, sagt sie. Niemand darf ihren geliebten Mann ersetzen oder gar verdrängen, lautet ihre fast beschwörende Aussage.

Eine andere Frau wurde durch den Tod ihres Partners völlig überrascht. Er starb an einem Herzinfarkt. Sie hat inzwischen mehrere neue Tätigkeiten und Hobbys, die sie begeistern, und findet dadurch ihre Zeit ausgefüllt und lebenswert. Bei allem will sie frei entscheiden können und nie mehr bevormundet werden.

Eine Witwe, die ihr Haus fast am Ende der Straße hat, musste ihren Mann verhältnismäßig früh beerdigen. Sie hält ihren Garten vorbildlich in Ordnung. Sie ist die Frau, die angesprochen werden kann, was Blumen, Pflanzen, Gewürze betrifft. Über alles, was mit der Natur zu tun hat, gibt sie bereitwillig Auskunft. Was wir schon ahnen können, all das will sie allein tun, ganz nach ihrem Rhythmus. Sie meint, da habe ihr niemand dreinzureden, sie sei die Expertin.

Wir merken, jede Frau hat ihre eigene Geschichte – als selbstbewusste Witwe.

Diejenige, die am anderen Ende der Straße wohnt, ist eine typische Oma. Sie entspricht also gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen. Was das bedeutet? Sie verhält sich konform, so, wie sich die meisten Menschen auch heute noch eine Frau wünschen, die plötzlich ohne ihren langjährigen Partner leben muss. Sie betreut die Enkelchen, und diese Arbeit füllt sie total aus.

Die Witwe, die um die Ecke wohnt, ist schon seit Jahren sehr krank und dachte deswegen, sie würde als Erste sterben. Sie war fest davon überzeugt, der Tod träfe sie vor ihrem Mann. Medizinisch betrachtet hätte er sie überleben müssen. So rechnete sie gar nicht damit, jemals allein in dem großen Haus zu leben. Nun kommt sie über den jähen Abschied ihres Partners, über seinen Verlust und den damit verbundenen Schmerz nicht hinweg. Sie schleicht nur noch als Schatten ihrer selbst durch die Welt.

Freuen hingegen können sich die noch lebenden Paare an einer auch äußerlich sehr attraktiven Witwe. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes war sie immer sehr geschmackvoll gekleidet. Ins Auge sticht jedoch, dass sie sich seit dem Tod ihres Gatten eher auffällig anzieht. Die Blazer tragen alle leuchtenden Farben der Skala. Die Accessoires sind perfekt abgestimmt. Jede Woche geht sie zur Friseurin. Sie ist eine, die ihr Witwendasein in vollen Zügen richtig genießt. Sie spricht vieles aus, was andere vielleicht denken, doch nicht sagen wollen. Sie will auf keinen Fall mehr Kässocken waschen und erst recht nicht mehr getragene männliche Unterhosen. Kurz, das sollen die Träger bitte selbst erledigen. Und in ihrem Bett brauche sich keiner mehr breit zu machen. Und was das Geld betreffe, das könne sie schon selbst ausgeben.

Wenn wir die Straße der Witwen aus dieser Perspektive betrachten, dann hat unser freundlicher Bewerber keine große Auswahl. Die Witwen leben ihr eigenes Leben, sie arrangieren sich mit der veränderten Wirklichkeit.

Das gibt Anlass zu einigen Überlegungen und Fragen.

Sind die Frauen nach einer langen, aufopfernden Ehe nun ehemüde? Offensichtlich genießen manche es jetzt, ihre Wünsche in den Mittelpunkt stellen zu können. Ist die Ehe überhaupt noch eine anzustrebende Institution? Oder sollten wir uns noch einige Geschichten erzählen, bevor wir den Abgesang der Ehe anstimmen?

Das Thema ist spannend genug. Noch spannender wäre es, die genauen Hintergründe jener Lebensentwürfe zu erfahren, die im Hafen der Ehe dahinsiechen.

Jedenfalls gibt es inzwischen in fast jedem Stadtviertel und Dorf derartige Straßen. Die Straße der Witwen. Und ihrer Bewerber.


So liebenswert Marianne diese Beschreibung fand, die Lektüre bestätigte nur ihre Erinnerung an die damalige Scheu, Holger einzuladen und ihrer Nachbarschaft Gesprächsstoff zu bieten.

Sie grübelte. Welche Lösung hatte sie gefunden? Sie, deren Herz wie das einer Siebzehnjährigen klopfte, wenn sie an Holger dachte. Und sie hatte oft an ihn gedacht. Sie wusste sich verliebt. Und hatte sich nicht nur einmal gefragt, wie das weitergehen sollte. Die Spannung in Mariannes Gesicht verflüchtigte sich. Sie war verliebt gewesen, und was ist erfindungsreicher als die Liebe selbst? Sie findet und erfindet Wege, wo die Vernunft längst kapituliert. 

 

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