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Dolly Hüther

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Der fadenreiche Kokon - Textprobe "Die Mondlandschaft"

Die Mondlandschaft

Dieses Gewässer, wie ich es liebe!

Ja, ich spreche von dir. Ich muß dir einmal erzählen, wieviel du mir bedeutest. Wie du hier vor mir liegst – ganz still, glatt wie ein Spiegel. Auf deiner Oberfläche sehe ich den gegenüberliegenden Wald wie ein Gemälde. Mein heißgeliebter Weiher >Etang de Hirbach<. Seit über vierzig Jahren begeistert mich die Vielzahl deiner Facetten, die du mir immer neu bietest. Schon wie du eingebettet liegst in der Landschaft, in der ich mich seit Jahrzehnten im Sommer erhole, umgeben von den Dörfern Lothringens. Doch ohne dich, mit deinen vielen Armen, die Wälder umschließen, könnte mir die ganze Gegend gestohlen bleiben. Du, der mein Verlangen nach Wasser stillt. Du erkennst mich doch wieder? Ich bin die begeisterte Schwimmerin, die dich jedes Jahr aufs neue genießt und das sogar mehrere Male am Tag. Es ist nicht nur die angenehme Abkühlung, allein sie wäre schon Grund genug, so begeistert zu sein. Nein, es ist auch das Gefühl, wie mein Körper von deinem Naß umspült wird, mir und meinen kranken Gliedern Linderung bringt. Du gestattest all die Übungen, die ich ihretwegen übermütig in dir ausführe. Und läßt mich die Entspannung erleben, wenn ich mit Freundinnen oder meiner Schwester fast deine gesamte Länge bis ans andere Ufer durchschwommen habe.

Als ich noch viel jünger war – erinnere dich – und du, aufgewühlt vom Wind, mir Wellen angeboten hast, konnte ich mich im Segelboot mit dir messen. Ich vermisse diese wilden Ritte auf den Schaumkronen. Inzwischen ein wenig älter und bescheidener geworden, ist es mir wichtig, dir zu sagen, wie traurig ich wäre, gäbe es dich nicht mehr. Den gesamten Platz mit Haus und Tennisfeld würde ich auf der Stelle verkaufen.

Im vergangenen Jahr wäre die Hitze bis zu 38 Grad ohne dich gar nicht auszuhalten gewesen – von allen nicht, die hier um dich herum weilen. Besonders deine dunkle Tiefe lädt dann dazu ein, kopfüber in sie hineinzustürzen. Noch in diesem Wagemut fühle ich mich mit dir verbunden. Weißt du eigentlich, daß es Personen gibt, denen etwas entgeht, wenn sie dir ein Schwimmbad vorziehen, nur weil das Wasser um vieles klarer wirkt. Sie nehmen Chlorgeruch in Kauf und wissen nichts von deinem biologischen Leben, von deinem aus natürlichen Quellen und Bächen genährten Wasser.

Heute stehe ich wieder einmal vor dir.

Ich leide, wenn ich dich in deinem jetzigen Zustand sehe.

Ausgetrocknet! Eine perfekte Mondlandschaft. Die Stege ragen aus dem braungrauen Schlamm wie dahin geklatschte, langgezogene Gespenster, ihre dünnen Beine aus Rohren wirken häßlich und die ehemals nützlichen Zugänge und Absperrungen sinnlos lächerlich.

Absurd!

Erst jetzt, wo du leer von Leben ein gähnendes Loch bist, stelle ich fest, was dir die Menschen im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre angetan haben. Ich hoffe, es entlastet dich, wenn ich diesen angefüllten Eimer mit Wohlstandsmüll einer Tonne übergebe: Flaschen, zerbrochenes Glas, Angelschnüre, noch mit Haken versehen, halbe und ganze Muscheln, Plastik-teile, stinkende Lappen und vieles mehr. In der Mitte deines Bettes steckt noch ein halb eingesunkenes Boot, an anderen Stellen liegen vergammeln alte Autoreifen.

Die Menschen, die der Gemeinde vorstehen, hatten beschlossen, dein Wasser abzulassen. Uns haben sie erzählt, es sei von Zeit zu Zeit nötig, das Wasser zu erneuern. Ich weiß ja selbst, daß du im vergangenen Jahr „gekippt“ wärest, wenn es nicht geregnet hätte. Es gab Tage, an denen warst du grün, giftgrün, und voller Algen. Gegen Saisonende hieß es, wir sollten nicht mehr in dir schwimmen. Die Tantalusqualen waren kaum auszuhalten angesichts meiner Erinnerung an deine kühlen Fluten. Jetzt plagen mich Fragen:

Wirst du im nächsten Jahr wieder deine gesamte Fläche einnehmen?

Wird es genügend regnen, so daß du deine Fülle zurückerhältst?

Sie wollen auch die Kaimauer reparieren, das sei unbedingt erforderlich. Und dann, wenn du wieder in voller Wasserpracht erstrahlst, soll in dir eine neue Fischbrut heranwachsen. Ich bin gespannt!

Weiher, ich möchte mich bei dem Wüstenanblick, den du bietest, an den vergangenen Sommer erinnern. Was haben die Kinder einen Spaß gehabt. Wie haben sie dich mit ihren Sprüngen traktiert, obwohl ich denke, es war kein Traktieren, für sie war es Spaß pur. Du hast mitgespielt, indem du durch riesige Spritzer zeigtest, daß du dich mit ihnen freust. Da schwamm Mascha, die kleine, etwas pummelige Göre, das erste Mal in ihrem sechsjährigen Leben bis auf deine Gegenseite. Bezeichnend war, daß sie sich stets die Nase zuhielt, sobald sie zum Sprung ansetzte. Die beiden Janniks, der eine blond, der andere dunkelhaarig, wollten sich immer ins Wasser „bomben“, was auf Fotos festgehalten wurde. Das konnte zwanzig Mal passieren. Marie und Jannes, die Geschwister, die sich liebend gern in dir vergnügten, befürchteten schon, daß wir im nächsten Jahr mit lechzender Zunge vor deinem halbgefüllten Becken sitzen und ganz traurig sein würden. Ich vermisse außer diesen quirligen Kindern noch anderes Leben aus den Sommertagen. Ich sehe keines der mir lieb gewordenen Tiere. Wo sind die Schwäne mit ihren Jungen, die jetzt bestimmt schon ausgewachsen sind? Die Bleßhühner mit ihrem Gepiepe? Die Enten in ihrer Pracht sehe ich nirgendwo mehr. Oder den majestätischen Reiher in seiner Schönheit. Es gab die Haubentaucher, bald hier und bald da auftauchend, mit Fischen im Schnabel. In diesem Moment spüre ich, was noch alles fehlt, zum Beispiel die hochspringenden Fische – die mich beim Sonnen auf dem Steg aufschreckten –, oft riesige Prachtexemplare.

Wenn ich jetzt diese Mondlandschaft ansehe, empfinde ich, als seiest du gestorben.

Deshalb muß ich jetzt gehen.

Diesen Anblick kann ich nicht ertragen.

Er zieht mich ganz tief runter, er macht mich schwer.

Auf Wiedersehen, mein geliebter Weiher, bis zum nächsten Jahr und hoffentlich mit frischem Wasser voll gefüllt.


Dolly Hüther
12. Oktober 2004

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